Donnerstag, März 28, 2024

"16. November
Manchmal Anfälle von Wünschen (zum Beispiel nach einer Reise nach Tunesien); doch das sind Wünsche aus einer Zeit vorher - gleichsam anachronistisch; sie kommen von einem anderen Ufer, aus einem anderen Land, dem Land von einst. - Heute ist dieses Land flach, öde - fast ohne Wasserstellen - und lächerlich."
ROLAND BARTHES: Tagebuch der Trauer. München : Carl Hanser Verlag, 2010, 63
"Er setzte sich rasch; mit einem schnellen Griff zog er, schon fast mechanisch, das Heft aus der Mappe, das er immer bei sich trug, klein und unscheinbar und nicht grösser als ein Schulheft, er griff zum Stift und begann einfach aufzuschreiben, was er da sah und hörte, Gesichter, Gebärden, Geräusche, ein Lachen, ein Kurvenquietschen des Trams. Er schrieb ohne Ziel, ohne Absicht, wollte nichts mitteilen, er schrieb, um in Worten zu sein, sich festzuhalten am Stift, an den Worten, die er hinkritzelte, an den Bildern, die er sah, an den Sätzen, die er aufnahm und abschrieb, über Lady Shiva und den Aramäisch-Kurs, sie in sein Heft schrieb, damit sie da waren, auf dem Papier, damit überhaupt etwas da war und nicht dieses Taumeln, dieses Entschwinden und Sichabhandenkommen."
URS FAES: Halt auf Verlangen. Berlin : Suhrkamp, 2017, 28-29


Montag, Januar 29, 2024

"Welchen Weg ich gegangen sei?
Keinen.
Es war das Leben, das mit mir auf und davon ging.
Was hinterher wie ein Weg aussieht,
hat sich unmerklich an meine Fersen geheftet."
KURT MARTI

Dienstag, Januar 02, 2024

"Der Traum von Schnee und Frost wird mit jedem Jahr nostalgischer, als wären sie endgültig irgendwo in der märchenhaften Kinderwelt geblieben, als wären Eisblumen und Schnee die Kindheit selbst. Der Schnee tritt in die Vergangenheit zurück, zieht höher in die Berge, weiter nach Norden. Sogar ein gewöhnlicher Winterurlaub bekommt Züge einer Pilgerfahrt Richtung Schnee. So wie man früher in dürren Jahren den Regen herbeigerufen hat, hat man in Moskau nun angefangen, den Schnee zu beschwören, wenn auch nur im Spass und auf Facebook. Seit kurzem gibt es in Russland den hochmütigen Begriff 'Euro-Winter', womit nicht nur der schneelose europäische Winter gebrandmarkt, sondern unterschwellig - wenn auch ironisch - die Demokratie der lauwarmen Europäer verspottet wird. Denn: alles schmilzt."
KATJA PETROWSKAJA: Eisblumen von Davos. In: Dies.: Das Foto schaute mich an : Kolumnen. Berlin : Suhrkamp Verlag, 2022. (Bibliothek Suhrkamp ; Band 1535), 183
 "Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend,
Schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen,
Und in der Weite der Welt geht nichts - das glaubt mir - verloren;
Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden
Heisst nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen
Nicht mehr sein wie zuvor."
OVID: Metamporphosen, zit. nach: HERLINDE KOELBL: Metamorphosen = Metamorphoses. Göttingen : Steidl, 2022

Sonntag, Dezember 31, 2023

"My heart doesn't hurt anymore
But my soul does, maybe
That's what souls are for, to
Take the hurt the heart can't take
The heart can't take"

Aus: JOHN TRUDELL: Doesn't hurt anymore

Sonntag, Dezember 17, 2023

"Was für Dinge? Jede Beobachtung muss sich von dem vertrauten Entzifferungscode, den sie bei sich hat, trennen, muss sich treiben lassen inmitten von allem, was sie nicht versteht, um eine Mündung erreichen zu können, wo sie sich verloren fühlen wird. Als ein natürlicher Hang, der uns mitzieht wie ein Sog, bringt uns jede intensive Beobachtung der Aussenwelt vielleicht unserm Tod näher; anders gesagt: sie verringert den Riss, der uns von uns selbst trennt."
GIANNI CELATI: Landauswärts. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1996. (suhrkamp taschenbuch ; 2603), 10
"Als ich noch jung war, las ich unentwegt, ich hatte Angst, ich könnte etwas versäumen, und jetzt kommt es mir vor, als fliesse das Versäumte und das Gefundene in demselben Flussbett dahin.
Das einzige, was man verstehen kann, ist vielleicht, dass wir Fremdlinge sind in diesem Tal der Tränen, nicht hineinpassen in dies einzige Leben (Unglück, Schmerz, Tod), das wir haben. Und dass alles darauf hinarbeitet, uns das Gedächtnis zu nehmen, uns hilft, Dämme zu errichten, damit wir sagen können, 'es hat auch seine guten Seiten', damit wir Gartenzwerge vor unsere Haustür stellen, kurz, damit wir immer und überall sagen und zeigen, dass dies Leben etwas ganz anderes ist, als es ist."
Ebd., 52f
"Luciano am Steuer, er redet mit mir: 'In manchen Augenblicken habe ich Lust, alles zu fotografieren, alles, was ich sehe, erscheint mir interessant. Dann schaue ich ins Objektiv und alles erscheint mir ganz gewöhnlich aus denselben Gründen wie vorhin, als ich es fotografieren wollte. Wenn ich hingegen nicht daran denke, dass ich fotografieren muss, dann passiert beinahe das Gegenteil: ein einzelner Gegenstand beeindruckt mich, ganz für sich allein, ohne viel zu überlegen, bringe ich ihn ins Bild und sehe, dass er im Bildausschnitt ein Eigenleben entwickelt. Das Problem ist vor allem der Bildausschnitt. Auch der Gemütszustand spielt eine Rolle.'"
Ebd., 74
"Da draussen herrscht ein Potential an Depressionen, das dir, sobald es dich packt, die Lust nimmt, dir nach Art eines distanzierten Beobachters eine Vorstellung von allem zu machen."
Ebd., 90
"[...] dann kommen mir die in den Sinn, die alles mit grossen Abstraktionen ins Lot bringen, nur an das glauben, was sie in ihren Büchern und Zeitungen lesen, und die ganze Welt von oben herab behandeln, weil sie es nicht ausstehen können, sich versprengt zu fühlen und der Zufälligkeit der Erscheinungen ausgesetzt zu sein. Wenn du das Gefühl hast, alles zu verstehen, vergeht dir die Lust am Beobachten."
Ebd., 113f

Samstag, Oktober 14, 2023

 "Mein Großvater pflegte zu sagen: 'Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.'" 
FRANZ KAFKA: Das nächste Dorf. 
"In einer von Franz Kafkas Parabeln sagt der Grossvater, er könne kaum begreifen, warum ein junger Mensch sich entschliesse, ins nächste Dorf zu reiten, obwohl doch die Lebenszeit dazu bei weitem nicht ausreiche. Was meint er damit?"
"Kafkas Werk ist von einer solch atemberaubenden Gegenwärtigkeit, dass mir beim Lesen regelrecht schwindelig wird. Die Reinheit des Augenblicks ist bei ihm durch nichts gestört. Alle anderen sind dagegen geschwätzig. Der Grossvater ist die Inkarnation Kafkas selbst: Auch in dieser Parabel geht es um eine vollständige Wahrnehmung des Augenblicks, in der es keine Vergangenheit und Zukunft gibt, um lauter Unendlichkeiten, die sich bei der Betrachtung jedes Dings, das auf dem Weg ins nächste Dorf liegt, offenbaren."
MANFRED OSTEN ; [im Gespräch mit] Dirk Gieselmann: "Worum sorgen wir uns? Dass wir nicht mehr zum Leben kommen!" In: Das Magazin. 2023, N° 41, 22-23

Donnerstag, Oktober 05, 2023

 "Der Mensch, der seine Wurzeln kappt, der sie verliert und vor der Vergangenheit flieht, findet in dieser Welt keine Zuflucht mehr."
JÓN KALMAN STEFÁNSSON: Dein Fortsein ist Finsternis : Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. München : Piper, © 2022, 368
"[...] Wir haben nur uns, und das Leben ist zu kurz und dornig, um seine Liebsten zu verstossen. [...], die  Stärke eines Menschen bemisst sich danach, ob er in der Lage ist, sich selbst zu helfen, oder nicht. [...] Der wichtigste Kampf eines Menschen ist der, den er gegen sich selbst führt. Ich muss meinen inneren Saustall aufräumen."
Ebd., 458
"Aber wer sich nie anderen anvertraut, wird nach und nach zu einem Schneckenhaus. Der kriecht, in sein Haus zurückgezogen, durchs Leben, rollt sich um einen Kern zusammen - und all das Wichtige, über das er nie spricht, verschmilzt mit dem Gehäuse und wird mit den Jahren immer härter, mit der Folge, dass es für andere immer schwerer wird, an dich heranzukommen, und für dich, andere zu erreichen. Die Schale wird Abwehrbollwerk und Gefängnis in einem. Möchte man so leben? Möchte man so sterben?"
Ebd., 492
"Jeder wird mit seinem Wesenskern geboren. Natürlich haben Ereignisse im Leben ihre Einwirkung darauf, aber wenn er solide ist, dann verändern sie den Menschen nicht in seiner Substanz. Du bist, wer du bist, und das warst du immer. Aber es ist notwendig für dich zu vergeben. Zu verzeihen ist manchmal das Gleiche, wie zu sich selbst zu stehen. Wer andern vergibt, findet sich selbst. Und wer sich selbst findet, ist frei."
Ebd., 529